„Der Notruf ist das erste Glied in der Rettungskette“
Heute ist der Europäische Tag des Notrufs 112. Jakob Goëss, der Leiter des Rotkreuz-Rettungsdienstes im Landkreis Traunstein, erklärt im Interview, was es mit diesem Aktionstag auf sich hat, wann die 112 gewählt werden soll und worauf es bei einem guten Notruf für die Notfallsanitäter des Rettungsdienstes ankommt.
Herr Goëss, wieso wurde der Europäische Tag des Notrufs 112 ins Leben gerufen?
Dieser Aktionstag soll den Bekanntheitsgrad der einfachen Notrufnummer 112 weiter erhöhen. Denn obwohl die 112 bereits 1991 eingeführt wurde, wählen bis heute immer noch viele Menschen veraltete nationale Notrufnummern, weil diese beispielweise vor langer Zeit neben dem Telefon angebracht und nicht ausgetauscht wurden. In der Stresssituation eines Notfalls kann es dadurch zu mitunter fatalen Verzögerungen bei der Rettung von Menschenleben kommen.
Was sind die Vorteile der 112 gegenüber früheren Notrufnummern?
Die 112 funktioniert in allen EU-Ländern und allen Telefonnetzen. Sie wird im Funk- und Festnetz mit Vorrang behandelt und funktioniert sogar dann, wenn das Mobilfunknetz des eigenen Netzbetreibers gerade nicht verfügbar sein sollte. Bei der 112 gibt es keine Vorwahl und der Anruf ist immer gebührenfrei.
Wann sollte die 112 gewählt werden?
Die 112 muss gewählt werden, wenn es potentiell lebensgefährlich wird. Dazu gehören schwere Unfälle, Schmerzen in der Brust, Störungen der Sprache, Kreislaufkollaps, Störungen des Bewusstseins, Atemnot, schwere Brandwunden, Vergiftungen, Verätzungen, Lähmungs-erscheinungen, starker Blutverlust, starke Schmerzen und andere womöglich lebensbedrohliche Szenarien.
Wann sollte die 112 nicht gewählt werden?
Wenn jemand außerhalb der Praxis-Sprechstunden des Hausarztes krank wird und ärztliche Hilfe oder Beratung benötigt, es sich jedoch um keine lebensbedrohliche Erkrankung handelt, ist die ebenfalls vorwahl- und kostenfreie Nummer 116117 des ärztlichen Bereitschaftsdienstes die richtige Wahl. Beispiele für solche Anlässe sind Erkältungen, Ohrenentzündungen, Magen-Darm-Infekte oder Bänderrisse. Die wertvollen Kapazitäten unseres Rettungsdienstes sind begrenzt. Darum sollten sie für echte und zeitkritische Notfälle aufgespart werden, gerade und besonders in der Zeit von Corona.
Was passiert, nachdem man die 112 gewählt hat?
Der Anrufer wird automatisch zur nächstgelegenen Integrierten Leitstelle (ILS) vermittelt, die dann je nach Art und Schwere des Notfalls die zuständigen Rettung- und Hilfsorganisationen alarmiert. Alleine unser BRK-Rettungsdienst im Landkreis Traunstein rückt jeden Tag zu rund 80 Einsätzen aus. In Bayern und damit auch in unserer Region nehmen die Mitarbeiter der örtlichen Integrierten Leitstellen die Notrufe entgegen. Personen, die nicht sprechen oder hören können, können die ILS über die 112 auch per Fax erreichen.
Was gehört zu einem aussagekräftigen Notruf?
Beim Absetzen eines Notrufs ist es wichtig, der Integrierten Leitstelle alle nötigen Informationen zu übermitteln. Als Gedankenstütze helfen die 5 „Ws“: Was ist passiert? Wo ist der Einsatzort? Wie viele Verletzte? Wer ruft an? Warten auf Rückfragen! Der letzte Punkt ist wichtig, weil die Mitarbeiter der Integrierten Leitstellen speziell geschult sind und im Falle eines Kreislaufstillstandes eine Reanimation durch Laienhelfer via Telefon anleiten können. Dies kann im Notfall Leben retten.
In welchem Bereich ereignen sich erfahrungsgemäß die meisten Notfälle?
In die Medien schaffen es überproportional viele Verkehrsunfälle, Naturkatastrophen oder Gewalttaten. Aber statistisch geschehen ereignen sich mit Abstand die meisten Notfälle im Familienkreis. Das liegt vor allem daran, dass wir mit Familienmitgliedern in der Regel viel Zeit verbringen und dadurch die Wahrscheinlichkeit steigt, einmal Augenzeuge einer akuten Erkrankung oder Verletzung zu werden. Häufig sind dabei akute Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt, Herzrhythmusstörungen, Schlaganfall, Lungenembolien oder Venenthrombosen.
Was ist sonst noch wichtig?
Das Absetzen eines Notrufs ist das erste Glied in der Rettungskette. Das zweite, ebenso wichtige, ist die Bereitschaft zur Ersten Hilfe. Für uns als ein Durchführender des Rettungsdienstes ist es von großer Bedeutung, dass die Augenzeugen eines Notfalls sofort Erste Hilfe leisten. Denn trotz des professionellen Notrufsystems in der Integrierten Leitstelle dauert es aufgrund von Alarmierung und Anfahrt einfach eine gewisse Zeit, bis ein Rettungswagen vor Ort ist und helfen kann. Diese Zeit muss von den Ersthelfern überbrückt werden, insbesondere wenn der Patient nicht mehr selbstständig atmen kann. Wir empfehlen darum jedem Bürger, sich in den Grundlagen der Ersten Hilfe ausbilden zu lassen, damit man in der Stresssituation eines Notfalls nicht überfordert ist.